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Documenta 11

Bis zum 15. September lief eine der weltweit bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst: Die Documenta 11 in Kassel. Zeit, um Bilanz zu ziehen und zurückzuschauen.

1. Station: Die Documentahalle

Beim Eintreten vermutet der unbedarfte Besucher in der Documentahalle zunächst eine Ausstellung zum israelisch-palästinensischen Konflikt: Überall flimmern Dokumentarfilme, an den Wänden hängen Landkarten, auf denen historischen Grenzen eingezeichnet sind. Es ist sicher gut und wichtig, den Konflikt darzustellen, darauf aufmerksam zu machen - aber: Ist das Kunst? Den Boden der Documentahalle zieren kreuz und quer verlaufende weiße Streifen - eine schematische Landkarte der palästinensischen Gebiete des Amerikaners Fareed Armaly und des palästinensischen Filmemachers Rashid Masharawi. Von diesem leider im Ausstellungskatalog gar nicht erwähnten Künstler läuft ein Film mit dem Titel "Waiting", in dem er ein Casting mit palästinensischen Schauspielern veranstaltet. Den Bewerbern trägt er auf, zu warten, während sie gefilmt werden, und treibt damit den Schauspieler, der unbedingt wissen will, worauf er warten soll, zur Verzweiflung. Der Bezug zur tagtäglichen Situation unzähliger Palästinenser, die jeden Tag an israelischen Checkpoints Schlange stehen, ist unverkennbar, und auch Masharawi wartete zu der Zeit, als der Film entstand, auf eine Einreiseerlaubnis.

2. Station: Die Binding Brauerei

Der etwas außerhalb der Innenstadt gelegene größte Ausstellungsort der Documenta in einer stillgelegten Brauerei ist ein Labyrinth aus Gängen und Räumen, in dem man zwangsläufig den Überblick verliert. Die meisten Besucher haken auf der Karte im Info-Faltblatt denjenigen Raum ab, den sie gerade besucht haben, und eilen zum nächsten, was ein wenig das Gefühl vermittelt, eine unangenehme Checkliste abzuarbeiten. Dazu besteht jedoch kein Anlass, denn die Binding Brauerei beherbergt interessante Installationen, Fotos und Videos zu Hauf. Hier ist auch die Fotografie - die neben all den bewegten Bildern der Documenta 11 beinahe ein Schattendasein führt - deutlich umfangreicher vertreten als in der Documentahalle. Der Amerikaner Allan Sekula zeigt mit seiner Fotoserie "Fish Story" die Arbeitsbedingungen des maritimen Proletariats von Norwegen bis zu den Philippinen, Ryuji Miyamoto stellt erschütternde Schwarz-Weiß-Aufnahmen des erdbebenverheerten Kobe aus. Am bewegendsten aber ist Touhami Ennadres ebenfalls schwarz-weiße Serie "New York, September 11". Dem marokkanischen Künstler gelingt es, mit diesen Bildern die unterschiedlichsten Gefühle hervorzurufen, sei es Mitleid beim Anblick der trauernden Menschen oder Wut auf den unhinterfragten übersteigerten Patriotismus, wie er auch aus einigen Bildern spricht. Wie die Fotos, so sind auch William Kentridges Filme eher traditionell, nicht so sehr in der Wahl der Mittel wie in ihrer Ästhetik. Der Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner und Filmemacher aus Südafrika benutzt für seine düster-faszinierenden (Alb-)traumwelten immer wieder Kohlezeichnungen, Scherenschnitte und alte Filmausschnitte (hier Bilder aus dem 1. Weltkrieg) und verbindet sie mit Klängen zwischen Operngesang und 20er-Jahre-Filmmusik. Auch die gegenständliche Kunst kommt in der alten Brauerei nicht zu kurz. Der Niederländer Mark Manders zeigt verschiedene Elemente seines "Self-Portrait as a Building": Eine beklemmende Ansammlung von Objekten, über denen ein Gefühl von Vergänglichkeit, von Tod, auch von Leid liegt, ohne dass dieser Eindruck deutlich greifbar ist. Auch Annette Messager aus Frankreich geht es in ihrem Werk um Leid und Schmerz. Auf der Documenta 11 stellt sie knuddelig aussehende Stoffpuppen und Kissen aus, die sich bei genauerem Hinsehen in gequälte Frauen verwandeln. Ein beängstigendes Gefühl vermittelt "FluxSpace 3.0/Mscapes", der Documenta-Beitrag des New Yorker Architekturbüros Asymptote: Ein Hybrid aus virtuellem und realem Raum, in dem sich der Besucher von einer riesigen Machinerie verschluckt glaubt.

3. Station: Fridericianum

Zurück am Friedrichsplatz ist meine dritte Station das historische Fridericianum aus dem 18. Jahrhundert in Sichtweite der in den 90ern erbauten Documentahalle. Dem Publikumszuspruch nach ist hier das "Illuminated Manuscript" des Amerikaners David Small die Hauptattraktion. Es handelt sich um ein halb-virtuelles Buch: Die Seiten sind gegenständlich, Buchstaben, Worte und Sätze sind Projektionen historischer Texte von der Bibel bis zur amerikanischen Verfassung, die auf die Bewegungen der Betrachter reagieren. Auch sonst hat das Fridericianum einiges zu bieten. Da sind etwa im Erdgeschoss Leon Golubs großformatige Gemälde und kleine Zeichnungen, die staatliche Gewalt - Verhöre, Folterungen, Kämpfe - zeigen und drohende Titel tragen, etwa "We can disappear you" - Erinnerung an die Unzähligen in totalitären Gefängnissen Verschwundenen und Ermordeten. Eine originelle Idee zwischen Happening und "Ereignis" (Urheberin Maria Eichhorn) ist die Gründung einer Aktiengesellschaft, die keinen Kapitalzuwachs duldet und damit den Prinzipien einer solchen Institution zuwider läuft. Ausgestellt werden notarielle Urkunden des Gründungsprozesses und das Startkapital: säuberlich gebündelte Euro-Scheine. Ein auf ästhetischer Ebene sehr überzeugendes Werk hat Shirin Neshat geschaffen. Die in den USA lebende Iranerin zeigt auf zwei Leinwänden mit jeweils unterschiedlichen Bildern - stereo - einen poetisch-allegorischen Film, in dem das Konzept des Gartens als einer Stätte der Zuflucht aufgegriffen wird. In farblich verfremdeten Bildern eilen Menschengruppen durch karge Landschaften zu ruhiger, meditativer Musik auf einen umfriedeten Baum zu.

4. Station: Der Kulturbahnhof

Die letzte Station meines Documenta-Tages ist der Kulturbahnhof. Hier liegt ein Schwerpunkt auf Entwürfen utopischer Architektur. Von Constants "New Babylon", dem eine ganze Halle gewidmet ist, über Isa Genzkens "New Buildings for Berlin" zu Bodys Isek Kingelez' spielzeugbunten Stadtlandschaften. Am überzeugendsten waren für mich Kendell Geers mit seinen Fotografien der Sicherheitssysteme vorstädtischer Privathäuser in seiner Heimatstadt Johannesburg und der Deutsche Andreas Siekmann mit seiner in Rottönen gehaltenen Zeichnungsserie "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" - ein kunstvoller Comic-Strip. Protagonisten der Handlung sind Blue Jeans, die - als ehemalige Arbeitskleidung - durch die Welt der Globalisierung, des Kapitals und der Börse irren.

5. Fazit

Der Documenta-Tag neigt sich dem Ende zu, und nach zehn Stunden Kunst bin ich rechtschaffend erschöpft. Die vier wichtigsten Ausstellungsstätten sind besucht, die Besichtigung einiger Außenkunstwerke, derer es auf der Documenta 11 - im Gegensatz zu früheren Ausstellungen - nur sehr wenige gibt, ist dem Zeitmangel zum Opfer gefallen. Wollte man sich intensiv mit der Documenta befassen und möglicht alles sehen, hätten zwei Tage eingeplant werden sollen. Natürlich ist es möglich, ein eintägiges Mammutprogramm durchzuziehen, doch dabei kann es passieren, dass man nur Zeit verschwendet, denn viele Werke erschließen sich erst nach etwas längerer Betrachtung und mit zu wenig Zeit läuft man vielleicht an vielem vorbei, auf das man sich nach stundenlangem Input nicht mehr einlassen kann oder will: Die Documenta ist intellektuelle Schwerstarbeit. Natürlich kann in einem solchen - wenn auch langen - Artikel nicht jedes Werk beschrieben werden, hier versammelt sind hauptsächlich einige meiner persönlichen Highlights, und jeder andere - gerade das ist das Spannende an der Kunst - wird andere auswählen. Von vielen Seiten ist zu hören, die Documenta 11 sei nur Politik, kaum mehr Kunst. Tatsächlich hat fast jedes Werk einen politischen Hintergrund, doch gehört die Auseinandersetzung mit der Politik, den Konflikten, Problemen und Ungerechtigkeiten der Welt zur Aufgabe der Kunst, sodass beides nicht getrennt werden sollte. Diese Auseinandersetzung muss sich nicht im Abspielen von Dokumentarfilmen äußern, sondern kann durchaus inspiriert geschehen - wie vielfach auf der Documenta zu sehen. Ein weiterer Kritikpunkt vieler Documenta-Besucher ist der Überfluss der Videokunst, und tatsächlich: Hätte die Documenta ein Symbol, müsste es wohl ein Bildschirm sein. Doch warum gilt Video oder gelten neue Medien in der Kunst Vielen zwangsläufig als negativ? Zeigt doch diese Documenta, dass qualitätvolle, schöne und engagierte Kunst auch auf dem Bildschirm möglich ist. Alles in allem fällt - trotz zu wenig Zeit - mein Gesamturteil ganz klar positiv aus. Ich habe einiges Schönes gesehen, viel Inspirierendes und engagierte politische Kunst, Mitreißendes, Bewegendes und vor allem: Kunst, die etwas zu sagen hat, die mir etwas sagt, und die zu eigenem Nachdenken zwingt.

Nora Mansmann

Link:
Die Documenta online

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