Kontroll

04.02.2005

"Ich weiß nicht, wo ich geboren wurde, außer dass das Schloss unendlich alt und unendlich grauenvoll war, voll dunkler Gänge und hoher Decken, an denen das Auge nur Spinnweben und Schatten wahrnehmen konnte. Ich muss Jahre an diesem Ort verbracht haben, aber ich habe kein Maß für die Zeit."

Foto: Tiberius
So beschreibt Howard Phillips Lovecraft in seiner besonders morbiden Kurzgeschichte "Der Außenseiter" die Erinnerungen der Hauptfigur an ein Leben in einem düsteren, unterirdischen Schloss. Vielleicht mag der sich der in Los Angeles geborene, aus Ungarn stammende Jungregisseur Nimród Antal von Howard Phillips Lovecraft inspiriert gefühlt haben, denn sein Film "Kontroll", der als Eröffnungsfilm auf dem Fantasy Filmfest 2004 für Furore sorgte und bei den Filmfestspielen in Cannes den »Prix de la Jeunesse« errang, spielt ausnahmslos in derart finsteren unterirdischen Katakomben wie sie beim Wegbereiter der modernen Schauerliteratur so häufig zu finden sind.

Das riesige Unter-Tage-Schienennetzwerk Budapests ist die älteste U-Bahn in Europa, ein gewaltiges, unterirdisches Labyrinth aus düsteren, zum teil heruntergekommenen Röhren, Tunneln, Schächten, Plattformen, Bahnsteigen und Hallen, durch das sich jeden Tag Millionen von Menschen schieben. Nachdem Luc Besson anno 1985 der Pariser Metro mit "Subway" ein Denkmal setzte, hat die U-Bahn der ungarischen Hauptstadt mit "Kontroll" einen nahezu ebenbürtigen filmischen Ehrenplatz bekommen.

"Kontroll" beginnt mit einem Abstieg in diesen Neonlicht-durchflackerten Hades: Eine Punkerin, offenkundig in Folge übermäßigen Alkoholgenusses nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne, gleitet über eine riesige Rolltreppenphalanx in die Unterwelt, verharrt auf einem Bahnsteig kurz nach einigen verdächtigen Geräuschen und Lichtwechseln (die dem Thriller-erfahrenen Zuschauer das Herannahen drohenden Unheils unmißverständlich klar machen), dann fährt ein Zug ein, eine schattenhafte Bewegung, und von einer Sekunde zur nächsten erinnert nur noch ein einsamer Stöckelschuh an die Existenz der jungen Frau.

Foto: Tiberius
Wer nun jedoch glaubt, "Kontroll" entwickele sich zu einem genre-konformen Horror-Thriller, der irrt gewaltig - trotz des unzweifelhaft sehr Slasher-typischen Beginns. Denn die Geschichte um den schattenhaften, vermummten Killer, der seine Opfer auf einsamen U-Bahnhöfen vor einfahrende Züge stößt, ist nur einer von vielen, scheinbar unvereinbaren Handlungssträngen dieses facettenreichen Films. Im Fokus steht vielmehr eine Gruppe von Fahrkartenkontrolleuren: Ein skurriler Haufen halb verwilderter, vom alltäglichen Wahnsinn ihres Jobs ausgemergelter Underdogs, zermürbt und ausgebrannt im Krieg gegen Schwarzfahrer, Hooligans, Sprayer und konkurrierende Kontroll-Teams. Bulscú (Sándor Csányi), der stille, nachdenkliche Held, ist eine Figur wie aus den tiefsten Lovecraft'schen Phantasien: Eine bleiche Geistergestalt, ein Aussteiger und "Außenseiter" im besten Sinne der gleichnamigen Kurzgeschichte, der das Schattenreich der Budapester U-Bahn nicht nur zu seinem Arbeitsplatz, sondern auch zu seinem Wohnraum erkoren und der seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen hat.

Episodenhaft erzählt Nimród Antal seinen Film, wobei ihm größtenteils das Kunststück gelingt, narrativ von giftig-beißender Satire über beinharte Milieustudie von halbdokumentarischem Charakter bis zu völlig surrealistischen Horror-Sequenzen zu springen, ohne stilistisch den Bogen zu überspannen. Seine Wirkung schöpft "Kontroll" aus der visuellen Kraft seiner Bilder: Nimród Antal inszeniert das Budapester U-Bahn-System als urbanen Höllenschlund, als neon-beleuchtetes unterirdisches Metropolis mit Impressionen von abgrundtiefer Düsternis und dunkler Traumpoesie. Die (bislang außerhab Ungarns völlig unbekannten) Darsteller, allen voran Bulscú-Darsteller Sándor Csányi, sind großartig besetzt. Die bizarre, fragmentarisch erzählte Story des Films kommt teilweise ähnlich vertrackt und mysteriös daher wie bei David Lynch.

Johannes Pietsch